Ich sortiere immer noch Papier. Wie wäre es denn heute mal wieder mit ein bißchen Literatur? Einer kleinen Geschichte? Mir ist ein altes Manuskript in die Hände gefallen, die Geschichte gefällt mir gut. Ich habe sie während des Irak-Krieges geschrieben und vor einiger Zeit ein bißchen überarbeitet. Und da dachte ich “Komm, Mimi, mach, stell sie rein ins Internet, dann liegt sie hier nicht mehr auf dem Boden rum ;-).
Operation Wüstensturm
Als er morgens aus seinem Fenster hinab sah auf den Park, packte ihn blankes Entsetzen.
Es war alles wie immer gewesen, die Sonne durch die bevorstehende Sommerzeit nicht aus ihrem Lauf zu bringen, die Vögel sangen und begrüßten den Frühling überlaut, dennoch tobte in Bagdad seit zwei Nächten ein Krieg. Hier war kein Artilleriefeuer zu hören gewesen, der Lärm der Fabrik, das Rangieren auf den Gleisen, all das: vertraut. Geräusche, die ihn gut schlafen ließen. Erwartungsvoll war er an das Fenster getreten, um wie an jedem Morgen einen Blick hinaus zu werfen, dass stetig sich verändernde Grün im allgegenwärtigen Einheitsgrau der Stadt zu betrachten, als er die Folgen einer nächtlichen Attacke auf den Kinderspielplatz sah: ein Hagel aus Styropor war niedergegangen, hatte Splitter gestreut, überall. Weiß und überaus brüchig schien der Friede danach.
Neben den üblichen Cola – und Bierdosen, Chipstüten und Pizzakartons bedeckte das weiße Gebröck den Sandkasten, die Spielgeräte, Schaukeln und Rutschen, alles, was sonst glänzend darauf gewartet hatte, dass Kinder lachend friedlich in der Sonne spielten. Vom Anblick unvermuteter Verwüstung war er schockiert.
Er beließ es dabei.
Einen Tag lang wartete er, ob etwa Unicef oder das örtliche Jugendamt sich der Kolateralschäden des Angriffes einer marodierenden Bande annehmen würde.
Als Nichts geschah, beschloss er am Mittag des darauffolgenden Tages selbst Hand anzulegen und verordnete sich „medidatives Harken“ Er hatte davon in einer Illustrierten gelesen. Manager, stand zu lesen, harken in kleinen Sandkisten herum, die auf großen Schreibtischen standen, mit Harken, die noch winziger waren als die Sandkisten, um so ihre Nerven zu beruhigen.
Das, so die einschlägige Literatur, haben sie von buddisthische Mönchen übernommen und es hieß, es ginge ihnen gut damit, sehr gut, den Mönchen wie Managern, sowohl mit dem Harken, aber auch mit der dabei sich unweigerlich einstellenden Erkenntnis über das Wesen der Welt.
Er hatte nach der Lektüre beschlossen, es gelegentlich auch einmal mit diesen einfachen Dingen des Lebens zu versuchen – nun schien ihm der rechte Zeitpunkt gekommen.
Er bewaffnete sich mit dem, was er für buddistische Gleichmut hielt, mit gutem Willen, einem alten Straßenbesen, einem noch älteren Laubrechen und machte sich daran, ein noch beruhigenderes Werk an einem noch bedeutenderen Platze zu vollbringen, als auf allen Schreibtischen der Hochfinanz zusammengenommen.
Er verließ also seine Wohnung, was er nur höchst selten und widerstrebend tat, denn die Nähe von Menschen hatte ihn von jeher schon nervös gemacht. Einzige Ausnahme blieb der Anblick von Kindern, deren Tun und Treiben er gern durch sein kleines Fenster zur Welt betrachtete. Nun begab er sich hinab zum Spielplatz, der vom Fallout der Styroporbombe, mit Plastik und sonstigem Müll überzogen war. Entschlossen marschierte er auf das Schlachtfeld, das jetzt schon den zweiten Tag verwaist und verwüstet in der Sonne lag.
Auf dem sonst so belebten Platz war völlige Ruhe eingekehrt, seitdem der Sandkasten aussah, wie eine Müllkippe. Einmal, am Nachmittag des ersten Tages, war ein kleines Mädchen mutter- und vaterseelenallein mit einem Schüppchen und einem Eimerchen gekommen, hatte sich in einen der tiefen Krater gesetzt, die die Zerstörer hinterlassen hatten und ratlos auf den herumliegenden Müll geschaut. Dann hatte es geweint.
Das war der Moment gewesen, in dem er beschlossen hatte, den Kampf aufzunehmen:
Er würde das alles hinwegfegen, er, höchstpersönlich und durchaus verwundbar, würde den fragilen Frieden im Sandkasten wieder herstellen! Auch wenn er keinem der Kinder in Bagdad helfen konnte, bei deren Anblick im Fernsehen es ihm allabendlich das Herz brach – diesem konnte geholfen werden. Jetzt. Sofort. Durch ihn. Sein Wüstensturm begann.
Am dritten Tag nach Kriegsbeginn, etwa um 12 Uhr mittags, ging die Operation „sauberer Friede“ in ihre entscheidende Phase: Der Spielplatz war, wie er beim Aufmarsch des höchsteigenen Räumkommandos feststellte, gar nicht so klein, wie ihn seine Luftaufklärung aus dem Küchenfenster hatte vermuten lassen.
Bei Buddah: ein gewaltiges Werk! Sollte an der Sache mit der Erleuchtung was dran sein, dann würde es ihm nach getaner Arbeit blendend gehen. Besser als jedem Manager. Er harkte los. Ruhig und gleichmäßig durchkämmte er Kubikmeter um Kubikmeter Sand, harkte, pflügte um, kehrte aus und häufte an. Er harkte und harkte und harkte.
Für das kleine Mädchen. Für den Weltfrieden. Für Buddah.
Und auch ein bißchen für sich…
Der Tag war windstill und warm. Nach zwei Stunden begann die Luft vor seinen Augen zu flirren, er war durstig, es war staubig, doch er harkte weiter. Und harkte und harkte…
Gegen Abend machte er sich daran, die Berge von Müll in Säcke zu packen.
Erleuchtet war er nicht, fühlte sich aber doch einigermaßen leicht.
Die Folgen von Frust und Zerstörung waren beseitigt, die Ordnung hergestellt: es herrschte wieder Friede im Sandkasten.
Zwischen Glas und Papier, Plastik, Styropor und all dem anderen Unrat fand er zuletzt, ganz zum Schluß, im Staub der letzten Schaufel, auch Spielzeug. Kinderspielzeug, vergessen im Sand.
Einen Plastiksoldaten fand er, olivgrün – der hatte sein Gewehr noch im Anschlag.
Zwei leergeschossene Magazine von Spielzeugpistolen fand er – die waren blutrot.
Und einen Panzer. Der hatte seine Ketten verloren.
Sein Gesicht war grau geworden, grau wie die Mauern der Stadt, als er den letzten Dreck in den Müllsack schaufelte und sich vor dem Nichts verbeugte.
Dann nahm er Besen und Rechen und stieg wieder hinauf in die Einsamkeit seiner Wohnung, wo er Buddah für die Erkenntnis dankte. Auf den Spielplatz sieht er nicht mehr hinaus. Er lauscht nur noch dem Gesang der Nachtigall.
written by Mimi Müller (2020)