Offener Brief an den Bundespräsidenten

Wenn das auch mit der PDF-Datei heute nicht mehr klappt und Sie sich den Brief jetzt nicht im Original herunterladen können, so hab ich mich doch entschieden, Ihnen den Text im Wortlaut heute Abend noch hier hinein zu kopieren. Ich wollte diese “Sache” für mich abschließen und habe gemerkt, daß sie für mich erst dann beendet ist, wenn ich den Inhalt öffentlich gemacht habe. Auf diese, für Sie nicht ganz so bequem lesbare Weise, kann ich mir den inneren Frieden verschaffen, den ich jetzt dringend brauche.
Ich will das Schreiben nicht in die Nacht und den neuen Tag mitnehmen. Morgen stelle ich dann im Laufe des Tages die Datei zum runterladen ein. Hier also der Brief.

Offener Brief betreffend Ihre Ansprache am 11. April 2020 zur Corona-Krise

Guten Abend, Herr Steinmeier,

in wenigen Stunden ist das Osterfest 2020 vorbei. Ich habe Ihre Ansprache dazu mit großem Erstaunen und einiger Verwunderung gesehen. Ich kann nicht umhin, Ihnen darauf zu antworten.

Wir, die in den Niederungen des bundesrepublikanischen Lebens stehen, haben uns gar nicht so sehr gesehnt, hinaus ins Freie zu gehen, wie Sie es vermuten.
Es ist uns ja gestattet, wenn auch nicht in gewohnter Weise. Wir konnten also hinaus, wenn wir wollten.

Sie haben aber recht, wenn Sie sagen, wir hätten sehr gern Freunde und Familie gesehen. Wir hätten uns auch gern in einen Biergarten gesetzt oder ein Restaurant besucht, doch wir sind längst nicht so ungeduldig, wie Sie es annehmen.

Es stimmt, wir waren all das gewohnt, es gehörte dazu, es war in diesem Jahr anders, dennoch hat es uns nicht, wie Sie fälschlicherweise unterstellen „die Herzen zerrissen“, darauf zu verzichten. Unsere Herzen sind aus Gold und noch immer schlagen sie in einem gesunden Takt.

 Wir haben den Ernst der Lage von Anfang an begriffen. Sehr viele noch bevor es der Gesundheitsminister tat. Wir begreifen ihn auch jetzt noch. Uns ist unser eigenes Leben und das aller, die wir lieben, so kostbar, dass viele die Einschränkungen, die man uns erst spät auferlegt hat, schon vorher, ganz und gar freiwillig, auf sich genommen haben.

Wir tun es auch jetzt noch, in der überwiegenden Mehrheit, ohne darüber zu klagen. Und wir sind erstaunt, in den Zeitungen zu lesen, wir drängten ungeduldig auf schnelle Lockerungen. Das ist nicht der Fall. Allerdings sind wir der Ansicht, dass Vieles, was „kleinen“ Händlern zugemutet wird, nicht nachvollziehbar und widersprüchlich ist.  Wir meinen, dass es nicht gerecht zu geht, bei den Schließungen dieser kleinen Geschäfte, während die Kassen von Konzernen nun im Übermaß klingeln. Dort gibt es keinerlei Zugangsbeschränkungen und wir stehen lange Zeit in vollen Läden Schlange. Andrerseits dürfen wir, nicht einmal einzeln, in eine Buchhandlung oder ein Wollgeschäft. Wir dürfen in Massen in Baumärkte, doch nicht einzeln in den Bastelbedarf. Das ist es, was wir beklagen und wo wir auf Lockerung drängen.  Die Nichtnachvollziehbarkeit der staatlichen Anordnungen, die Widersprüche, die Bevorzugung des Massengeschäftes vor Tante Emmas kleinem Lädchen ist nicht hinnehmbar. Wir wollen nicht, daß diese Kleinbetriebe für immer schließen müssen, weil sie die erzwungene Schließung nicht überstehen.

Es sind, wie sie zutreffend feststellen, Tausende gestorben.
Sie starben auch, weil ihre Regierungen keine ausreichende Bevorratung medizinischer Hilfsmittel beizeiten angeordnet hatten und weil leichtfertig notwendige Maßnahmen zu spät eingeleitet wurden.

In der Bundesrepublik wurde vom RKI (einer Bundesbehörde!) bereits 2012 ein Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz, sowohl der Bundesregierung als auch dem Parlament zur Kenntnis gebracht. Diese Analyse beinhaltet auch ein Szenario, welches die derzeitige Krise zutreffend voraussieht. Sie enthält Vorschläge zur Begrenzung einer solchen Katastrophe.

Niemand von den Regierenden und keiner der Abgeordneten hat diese Risikoanalayse zum Anlass genommen, daraus unverzichtbare Konsequenzen zu ziehen und unverzüglich eine Bevorratung medizinisch unverzichtbarer Hilfsmittel zu veranlassen. Ein nahezu unverzeihliches Versäumnis, daß nun vielen Menschen Gesundheit und Leben kosten wird. Es war und ist Aufgabe der Politik, solche Risikoanalysen ernst zu nehmen. Es ist ein schweres Versäumnis, von großer Tragweite, daß sie es nicht tat. 

All das wissen wir. Auch uns gehen die Bilder, die wir aus so vielen Ländern der Welt sehen, und die uns durchaus hier auch noch bevorstehen können, sehr nah. Und selbstverständlich danken wir den unermüdlichen Lebensrettern im Gesundheitswesen – ohne daß man uns dazu auffordern müsste.

Wir verkennen aber auch nicht, daß es eine von Ihnen persönlich mitgetragene Politik war, die die von den Bürgern dieses Landes gemeinschaftlich erwirtschafteten Kliniken und Krankenhäuser dem Gemeinwesen entzogen und an „Gesundheitskonzerne“ veräußert hat. Diese gingen unverzüglich daran die Personaldecke auszudünnen, Gehälter durch Leiharbeit und Outsourcing zu drücken, strichen notwendige Ausgaben für Hygiene, (Krankenhauskeime) Schutz und ausreichende Versorgung von Kranken wurden aus Kostengründen nicht mehr getätigt, um Gewinn zu maximieren und Dividendenzahlungen an Aktionäre beständig erhöhen zu können.

Wir haben nicht vergessen, in welchem Maße Sie selbst und Ihre Partei an dem Ausverkauf von Gemeingütern beteiligt waren oder ihn ermöglicht haben.  Auch erinnern wir uns, daß all dies in Ihrer aktiven Zeit als Politiker geschah, mit Ihrer Stimme und Billigung. Wir haben uns verzweifelt dagegen zu wehren versucht, uns mit Bürger- und Volksentscheiden dagegen ausgesprochen und fanden dennoch kein Gehör.

Es wurde sich von den politischen Verantwortlichen rigoros über all unsere Einwände hinweggesetzt und unser Gemeingut verkauft.  Ebenfalls mit Ihrer Beteiligung wurden „die Märkte“, die nun unser ganzes Leben durchdringen und bestimmen, völlig entfesselt.  Zudem wurden Gesetze geschaffen und andere verhindert, die einem solchen Geschäftsgebaren Vorschub leisteten oder hätten Einhalt gebieten können.

Es wurden obendrein „Gestaltungsspielräume“ geschaffen, die es ermöglichten, daß sich die Profiteure dieser unseligen Entwicklung jeglicher sozialen und steuerlichen Verpflichtung entziehen können.

Wenn Sie nun sagen, daß Sie mit ihren Gedanken bei jenen sind, die in engen Wohnungen ohne Balkon und Garten „einsitzen“, so vergessen Sie, dass selbst diese Wohnungen für viele Menschen nahezu unbezahlbar geworden sind. Auch hier hat Politik in vielfacher Hinsicht versagt und aktiv dazu beigetragen, in dem sie der „Wohnungswirtschaft“ zahlreiche Möglichkeiten eröffnete, Mieten maßlos erhöhen und Löhne, ebenso maßlos, senken zu können.

All das geschah mit Ihrem Wissen und Ihrer Billigung während Ihrer politischen Laufbahn. Dies zu ändern, verweigern ihre Genossen heute noch. Es wird dieser unsäglichen Gier nach Gewinnen immer noch kein Einhalt geboten. Und als Ihre Genossen sich nicht weiter den „Sachzwängen“ einer großen Koalition beugen wollten, um sich wieder Handlungsspielräume für die sozialen Fragen zu verschaffen, da waren Sie es, der sie in einem einzigartigen Akt präsidialer Selbstermächtigung, erneut in eine solche große Koalition hineindrängte.

Wenn Sie sagen, Sie seien beeindruckt von dem Kraftakt, den unser „Land“ in den vergangenen Wochen vollbracht hat, dann denken Sie dabei anscheinend vornehmlich an politische Leistungen. Doch es waren nicht die Regierenden, die diesen Kraftakt vollbracht haben.

Während man sich in Berlin zunächst in Sicherheit wog und dies der Bevölkerung auch so „kommunizierte“, wusste man sich, als die Katastrophe eintrat, über lange Zeit nicht zu einigen. Bisweilen kann man es auch heute nicht, zu sehr hat man die kommenden Wahlen im Blick, sucht sich selbst zu profilieren und den politischen Gegner nicht zu stärken.

Es sind die Bürger dieses Landes, die sich zunehmend selbst organisierten, sich unverzüglich um ihre Nachbarn kümmerten, sich freiwillig in häusliche Quarantäne begaben und die, auch an den Ostertagen, an Nähmaschinen sitzen und diesen Kraftakt vollbringen. Sie sind es, die Atemmasken nähen. Hilfsmittel, die sie dann den Feuerwehren übergeben, die diese weiterverteilt, um wenigstens für einen minimalen Schutz zu sorgen, da, wo der Staat bei der Beschaffung ausreichender Hilfsmittel völlig versagt hat. Sie sind es, die unablässig Kraftakte vollbringen, ohne dass ihr Einsatz angemessen gewürdigt würde. Stattdessen wird  er von manchen Politikern als nutzlose „Bastelei“ herabgewürdigt.

Niemand zwingt uns dazu „mit eiserner Hand“, wie Sie zutreffend feststellen.
Doch wir sehen all die Bestrebung, mit genau einer solchen eisernen Hand, Dinge durchzusetzen, gegen die wir uns in jahrelangen Kämpfen, entschieden gewehrt haben

Wenn nun die Rede davon ist, zwangsweise Apps auf alle Smartphones zu installieren, von denen wir (zunächst) freiwillig entscheiden dürfen, ob wir sie nutzen, so ist dies eine von den Bestrebungen, unsere Freiheit zunehmend einzuschränken.

Sie sagen, in dieser lebendigen Demokratie „vertrauen wir einander, trauen einander zu, auf Fakten und Argumente zu hören, Vernunft zu zeigen und das Richtige zu tun“. Wie passt das zusammen mit Aussagen, man solle den Bürgern ein oder zwei Monate Zeit geben, sich die App freiwillig zu installieren und wenn man merkt, dass man Menschen vermeintlich irrationale Ängste vor Überwachung nicht nehmen kann, doch über „Zwangsapps“ nachdenken will?

Zahlreiche Grundrechte sind schon außer Kraft gesetzt, doch auch weiterhin denkt man über den Ausbau digitaler Überwachungsmethoden nach, von denen wir erst aus den Zeitungen erfahren. Das alles hinterlässt bei mir nicht den Eindruck, als ginge es hier noch um eine „lebendige“ Demokratie, um Vertrauen und Zutrauen.

Wenn Sie fragen, ob die Sehnsucht nach Normalität heißen könne „Nur möglichst schnell zurück in den alten Trott, zu alten Gewohnheiten“, dann ist das eine Frage, die Sie nicht an die Bürger richten sollten. Es sind nicht die Bürger, die den derzeitigen Druck zum „Business as usual“ aufbauen. Es sind Politiker, die das forcieren und zwar auf immer größer werdenden Druck der Wirtschaft, dem sie nichts entgegensetzen.

Es sind auch nicht die Bürger, die „ihre Schäfchen ins Trockene bringen“.  Es sind Konzernvorstände, es sind Hedgefonds und ihre CEOs, die in skrupelloser Weise die derzeitige Krise schamlos ausnutzen. Sie nehmen Staatshilfen in Anspruch und zahlen gleichzeitig in Milliardenhöhe Dividenden. Sie wetten auf fallende Aktienkurse und es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, daß „Politik“ eingreift und die, die in vielfältiger Weise sich und ihre Anleger bereichern, endlich wieder in Schranken verweist. Schranken, die es einmal gab und die Sie abzuschaffen geholfen haben. Damit wurde ein asoziales und gesellschaftsschädigendes Verhalten heraufbeschworen, dessen wirksame Unterbindung auch Sie verabsäumt haben.

Die Frage ist auch nicht, ob die Bürger sich später noch an die Leistungen der Kassiererinnen und Paketboten, der unverzichtbaren Arbeit derer in den sozialen und pflegenden Berufen erinnern werden, und daran, was sie wirklich wert sein muss. Dies taten die Bürger schon vor der Krise. All Ihre Fragen und Appelle hätten Sie nicht an die Bürger richten sollen, sondern an die adressieren müssen, die Löhne und Gehälter in unverantwortlicher Weise drückten und die Arbeitsbedingungen, auch im Gesundheitswesen, katastrophal verschlechterten. Dazu gehören neben zahlreichen Wirtschaftsvertretern, die in Ihrem Büro ein und ausgingen, Ihre Ex-Kollegen, die dieses Geschäftsgebaren, mit Ihrer Unterstützung und ausdrücklicher Billigung, erst möglich gemacht haben.

Wenn Sie jetzt von einer Prüfung „unserer“ Menschlichkeit reden, die das Schlechteste und Beste in den Menschen hervorrufen könne, so ist auch der sich daran anschließende Appell  einer mehr,  den sie nicht an die Bürger dieses Landes hätten richten sollen, sondern an die, die einen solchen Appell bitter nötig haben: An eben diese Wirtschaftsvertreter, Politiker, und auch an Gewerkschafts-vorsitzende, die, als Diener zweier Herren, sich gerade Ihrer Partei mehr verbunden fühlen, als den Arbeitern und Angestellten, deren Interessen sie verpflichtet gewesen wären zu vertreten.

Die Bürger dieses Landes haben längst bewiesen, dass sie „mitfühlend, tatkräftig, vernünftig und solidarisch“ sind. Sie haben lange Jahre zahllose Verzichte geleistet, auch leisten müssen, da die Gesetzeslage so gestaltet wurde. Sie taten es in der vertrauensvollen Annahme, ihrem Land damit zu dienen. Sie mussten dann sehen, wie sie gerade von ihren gewählten Vertretern um den gerechten Lohn ihrer Arbeit und um ihr Gemeingut betrogen wurden. Sie wurden von ihnen schutzlos gemacht und einer Meute, deren Gier grenzenlos ist, hilf- und rechtlos „überlassen“.

Ich bedauere es sehr, mich in dieser Klarheit ausdrücken zu müssen, aber Ihre gesamte Rede ist für mich eine einzige Verhöhnung der Menschen, die seit Jahrzehnten, einen großen Wohlstand erarbeitet haben, von dem ihnen ein gerechter Anteil (unter tätiger Mithilfe einer willfährigen Politik), zunehmend verweigert wurde.

Heute reicht ein durchschnittliches Gehalt nicht einmal mehr, nach Zahlung von Miete, Strom und Heizung, ein leidliches Auskommen zu haben. Da muss dann noch ein Zweitjob oder ein Ehegattengehalt hinzukommen.

Zu all dem sagen Sie kein einziges Wort, stellen rhetorisch Fragen und richten fragwürdige Appelle an die Bürger, deren Präsident Sie sind, statt sie an die zu adressieren, die uns in diese verzweifelte Situation erst gebracht haben.

Sie zeichnen ein Bild von einer Lebenswirklichkeit, die mit der unseren in keiner Weise mehr übereinstimmt. Und Sie stehen damit Ihren Vorgängern in der Tradition des Verschweigens und Verschonens derer, die diese schändlichen Verhältnisse zu vertreten haben, in Nichts nach.

Ja. Die Welt wird nach dieser Krise eine Andere sein.
Die Fragen, die Sie fälschlicherweise an die Bürger richteten, will ich Ihnen stellen:
Suchen wir gemeinsam nach dem Ausweg oder fallen Sie zurück in Alleingänge?
Zeigen Sie uns das Beste von sich?
Werden auch Sie in dieser Lage wachsen und zukünftig Gerechtigkeit üben gegen Jedermann?

Für eines allerdings bleibt mir zu danken und das soll auch geschehen:
Ich bin dankbar dafür, dass ich in einem Land lebe, in dem ich solche unsäglichen Missstände anzusprechen das Recht habe, und einen Brief wie diesen an seinen Präsidenten richten kann, der diese Missstände mitzuverantworten hat, ohne dass ich dafür politisch verfolgt werde.

Mit freundlichem Gruß

Mimi Müller