Sie waren immer da, mein ganzes Leben lang. So lang ich lebe, so lang ich denken kann, waren sie da. Man konnte sie sehen, man hörte sie flüstern .Sie waren nie weg. Nicht einen einzigen Tag. Anfangs haben sie nicht offen geredet, hüteten sich, sich zu erkennen zu geben, denn wir alle waren wehrhaft und widersprachen sofort. Hier eine kleine Bemerkung, dort eine „dummer Spruch“, da ein schlechter Witz. Und wenn man sie darauf ansprach, sie stellte, mit offenem Visier, dann wiegelten sie ab: Da war etwas ganz anders gemeint gewesen, da habe man sich verhört, etwas falsch verstanden. Sie waren in Mölln und in Solingen, waren in Rostock–Lichtenhagen, in München und Berlin, in Duisburg und Norderstedt, Halle, Kassel… Sie waren nie weg, sie waren immer da und sie sind überall. Auch hier bin ich ihnen begegnet …
Es ist noch kein Jahr her, es war im letzten Sommer, da saß ich in einer Außengastronomie auf der Tangstedter Landstrasse. Männer kamen, nahmen Platz, tranken Bier, unterhielten sich, lachten, waren wohlgelaunt. Dann fing einer von ihnen zu summen an. Erst leise, doch nicht zaghaft, dann immer lauter. Einen Moment lang war ich starr, wollte, konnte nicht glauben, was passierte, was ich hörte. Für Sekunden krampfte sich alles in mir zusammen. Unverhohlen wurde im Jahre 2019, mitten in Deutschland, in Hamburg, in Langenhorn, in einer Straßengastronomie laut und für jeden unüberhörbar das Horst-Wessel-Lied “gesummt”. Ich drehte mich zu ihnen, sah dreckiges Grinsen und die triumphalen Blicke, die sie miteinander tauschten. Ich sah in das Gesicht dessen, der da summte. Dann hörte ich mich laut werden. „Du hörst sofort damit auf!“. Er grinste. „Was willst Du denn? Ich mach doch gar nichts!“. Sie lachten hämisch. Die Gespräche der anderen Gäste waren verstummt. Gebannt folgten alle dem “Schauspiel”. „Du hörst sofort damit auf, ich will keinen einzigen Ton mehr hören! Für dich ist jetzt Schicht im Schacht, kapiert? In meiner Gegenwart stimmt keiner das Horst-Wessel-Lied an!“ Die Wucht, mit der ich ihm meinen ganzen Zorn und meine Empörung entgegenschleuderte, überraschte mich selbst. „Kenn ich nicht. Horst-Wessel-Lied. Was soll das sein?“ Er wandte sich grinsend an seine Kumpane „Habt ihr das Lied schon mal gehört?“. Sie lachen. In diesem Moment trat die Wirt*in an ihren Tisch. Sie mögen Ruhe geben, sonst müssten sie leider gehen. Kein Bier schien keine gute Aussicht. Sie gaben Ruhe, die Wirtin kam nun zu mir. „Tut mir leid“ sagte sie „Die haben zuviel getrunken“. Zuviel getrunken… Ich sagte nichts und bestellte mir ein Glas Wein, wohlwissend, dass Nazis, wie auch die Zuschauer dieser Szene, auf meinen empörten Abgang warteten. Ich trank den Wein in Ruhe. Ich werde mir niemals von Nazis noch von deren schweigendem Publikum, meinen Tag, geschweige denn mein Leben diktieren lassen. Dazu sage ich “Nein”. Und ich bitte: Sagen auch Sie “Nein”.
Berthold Brecht schrieb: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. Dieser Schoß ist fruchtbar geblieben, bis heute. Die Nazis waren nie weg. Sie ziehen nun wieder feixend und mordend durch das Land. Und sie haben in der AfD endlich die eifrigen Geburtshelfer gefunden, auf die sie so lang gewartet haben. War sie also in den Wind geschrieben, Brechts Lehre im Epilog von „Der aufhaltsame Aufstieg des Arthuro Ui“ ? :
“Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt’ einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.”
Ich saß an jenem Sommertag nicht nur neben Nazis. Ich saß auch unter Mitmenschen, die stierten, statt zu sehen, die peinlich berührt weg hörten, statt ihre Stimmen zu erheben, die nicht redeten und nicht handelten, als in aller Öffentlichkeit, mitten in ihrem, in unserem Alltag, Nazis ihr widerwärtiges “Liedgut” anstimmten, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Die taten ja nix. Die hatten nur zu viel getrunken…
Zur Lektüre empfohlen: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui von Berthold Brecht.