Vorgang geht auf. Ort: Die Dachkammer. Anwesend: Mimi, Prof. Bär, das Hasenschaf. Zeit: Vormittag.
Das Hasenschaf sitzt auf des Bären Schoß, eben hat er noch „HoppeHoppe Reiter“ mit ihm gespielt. Nun schaut es ihn an und es will was wissen. Es will immer was wissen, was alle in der Dachkammer nervt. Alle, außer den Professor. Den nervt das nicht, er liebt es gefragt zu werden, denn er ist von Hause aus ein Erklärbär. Während sich die Poetin in Becksche Textausgaben vertieft, widmet Papa Bär sich mit Hingabe seinem Adoptivkind.
Hasenschaf: Aber das stimmt doch gar nicht, was die da schreiben. Keiner hat bis jetzt die Schilder als „Problemlage“ eingestuft. Über die Problemlage bei den Verkehrsschildern, da will sie sich später kümmern, im Herbst. Es geht doch um die Leiter. Was ist denn damit? Da steht nicht, was mit der Leiter ist. Aber darum geht es doch!
Bär: Nein, mein liebes Schäfchen, das hat die Mimi tatsächlich nicht gesagt. Problemlageneinstufung, das ist natürlich Blödsinn, sie hat nicht eingestuft Aber es soll so aussehen, als hätte sie es gemacht. Das ist ein Narrativ, mein Schatz, da muss du nichts drum geben. (Bär streichelt das Hasenschaf und küsst es auf die Stirn)
Hasenschaf: Was ist denn ein Narrativ? .
Bär: Das ist ursprünglich eine „Erzählung“. Eine besondere Art, aber eine Erzählung. Aber wenn … sagen wir mal… ein Politiker es benutzt, dann ist das heutzutage was Anderes. Wenn eine Geschichte ihm nicht nutzt, oder gar schadet, dann fabuliert er sich was zurecht. Lässt hier was weg, fügt da was zu, richtet den Scheinwerfer anders. Und nicht nur in der Politik bedient man sich der Narrative, überall trifft man darauf, das greift immer mehr um sich. Man erzählt schon noch um was es geht – aber eben anders. So, dass man besser dabei weg kommt, vielleicht sogar Applaus kriegt, für ne Sache, für die man sonst Schimpfe bekäm. Oder man bekommt die Zustimmung, etwas zu tun, was einem ansonsten vielleicht verboten worden wäre. Ganz simpel: Man macht das Haar in der Suppe unsichtbar, in dem man ein Büschelchen Petersilie drüber wirft….
Hasenschaf: Aber es ist dennoch drin in der Suppe!
Bär: Ja, aber man sieht es nicht. Und kriegt die trübe Suppe dann viel besser verkauft. Genau so ist es mit der Leiter. Man sieht sie in dem mail nicht mehr, obwohl es Mimi die ganze Zeit darum geht. Sie schreibt es immer wieder. Aber in dem “Abschiedsbrief” spricht die Behörde nicht mehr davon, sondern „erzählt“ eine andere Geschichte. Eine, in der Mimi eine „Einstufung als Problemlage“ vorgenommen haben soll. Diesen Eindruck will man erwecken. Da fasst sich dann nämlich jemand, der den ganzen Schriftwechsel nicht kennt, natürlich an den Kopp und denkt sich, die Müller, die hat doch nicht alle Latten am Zaun. In Wirklichkeit ist die “Problemlage” eine Andere, und das kann man auch nachlesen. Sie kann einfach diese Kleinigkeit, in 10 Minuten ein Schild vor Ihrer Haustür eigenhändig zu säubern, nicht erledigen, weil man ihr nicht erlaubt, eine Leiter zu benutzen.
Hasenschaf: Also ist ein „Narrativ“ so eine Art Ablenkungsmanöver?
Bär: Ja. Auch. Aber es kann noch viel viel mehr sein. Und vielen Zwecken dienen. Jedenfalls wird es nicht erzählt aus Freude am Erzählen. Es ist immer Mittel zu einem ganz bestimmten Zweck. Und zwar … (Bär wird von Hasenschaf unterbrochen)
Hasenschaf: Tarnen und Täuschen, Berumsen und Beschumsen.
Bär: Du überrascht mich immer wieder, mein Hasenkind, Du hast wirklich eine schöne Auffassungsgabe! Hier hab ich Dir noch was rausgesucht über den Unterschied zwischen einer Erzählung und einem „Narrativ“.
Prof. Bär nickt ein, während sich das Hasenschäfchen auf seinem Schoß bequem macht und liest. Es lernt ja so gern. Und liest so gern. Und hat noch so viele Fragen…. Vorhang.
Wir gehen auf Zehenspitzen ganz leise in die Pause, damit Bär nicht aufwacht, stören das Hasenschaf nicht beim Studieren und die Poetin nicht bei ihrer Arbeit. Sie will noch die fehlenden Briefe einstellen. Kommentarlos, hat sie sagt. Und dann muss sie ja auch noch eine Lesung vorbereiten …